Es ist dunkel und warm, das Licht von der Bühne erlischt. Eine Sekunde später wird der Saal in ein helles Gelb getaucht, während das Publikum applaudiert und jubelt. Um mich herum klatschen Hände ineinander, meine wühlen nach einem Taschentuch. Während ich mir die Tränen von den Wangen wische, schaut mich die Frau neben mir an. Ihr Blick beinhaltet Vieles – ein bisschen Mitleid, ein Fragezeichen und eine Prise Verunsicherung. Mir geht es blendend.
Blinzelnd klatsche auch ich, atme tief in meinen Bauch, spüre mein klopfendes Herz und die Welle aller Gefühle, die zwischen meinen Augen und meinem Brustkorb hin- und herfließt – und wieder über meine Lidränder hinaus. Ich merke den erneuten Blick, drehe mich zu der Dame um, lächle unter Tränen, nicke ihr zu und klatsche ebenfalls. Ich schäme mich nicht. Nicht mehr.
„Ich fühle viel und intensiv – und das ist okay, das darf alles da sein.“ Wie viele Jahre ich für diesen Satz gebraucht habe …
Bis dahin habe ich mich mein Leben lang an folgenden Aufgaben abgearbeitet:
- Nicht so empfindlich zu sein
- Mir nicht alles so zu Herzen zu nehmen
- Nicht immer gleich zu weinen
- Mich innerlich zu distanzieren
- Mir ein dickeres Fell zuzulegen
- Nicht soviel nachzudenken
Als Kind war ich mitunter sehr wild und laut – und dann plötzlich sehr zurückgezogen und leise. Empfindliche Haut wurde nach meiner Geburt vom Arzt als auffällig notiert, eine empfindliche Seele und ein unbändiger Gerechtigkeitssinn kamen hinzu.
Mit etwa 11 Jahren schrieb ich aufgeregte Briefe gegen das Leid von Mensch und Tier, in meiner Zeitschrift gab es als Rubrik Berichte über kritische Themen kindgerecht verpackt, mit dem Aufruf, zu protestieren und mit passender Adresse für Protestbriefe.
Traurige Filme hingen mir tagelang emotional nach, Albträume konnte ich kaum abschütteln, ich schleppte so viele Tiere von der Straße mit nach Hause, dass meine Mutter manchmal liebevoll verzweifelte. Als wir zwei Mäuse wieder auswildern sollten, saß ich vier Stunden lang mit Büchern im Gartenstuhl, um ja sicherzugehen, dass die „Babymäuse“, auch wirklich zurechtkamen.
Wie bei allen Teenagern waren die vielen Gefühle häufig überwältigend, die Welt bestand aus Höhen und Tiefen, dazwischen war ich nur auf Stippvisite. Der Wunsch nach Zugehörigkeit trieb mich um, häufig ohne Erfüllung und wie ein Alien fühle ich mich manchmal heute noch – „seht Ihr das nicht, fühlt Ihr das nicht?“ – möchte ich manchmal in die Welt rufen.
Überhaupt – die Welt. Nachrichten ertrage ich nur in einer gewissen Dosis, sonst wird mein Gemüt zu schwer, Weltschmerz ist mir ein Begriff, ebenso Melancholie – wir kennen uns ganz gut. Ebenso gut wie gnadenloser Optimismus, kraftstrotzend, himmelhochjauchzend, weinen vor lauter „Hach, ist das schön!“ und Gänsehaut vor Glück. Als schwach habe ich mich nie begriffen, aber häufig unverstanden und nicht „normal“ mit all diesen intensiven Gefühlen.
Dieses „sich nicht normal fühlen“ rührt natürlich auch aus der Reaktion der Mitmenschen. Im Bullshit-Bingo für Hochsensible habe ich Ihnen ein paar Äußerungen zusammengestellt, die ich häufig gehört habe in meinem Leben. Inzwischen denke ich: Für viele Menschen fühlen sich (starke) Emotionen bedrohlich an – und wenn Ihnen diese Emotionen bei anderen Menschen entgegenkommen, dann startet ein Abwehrmechanismus, der sich oft in Bewertung und Abwertung äußert.
Menschen – wie sie gucken, sich bewegen, sprechen – wenn etwas nicht stimmt, fühle ich etwas – ich nehme Unregelmäßigkeiten wahr und ich wäre die perfekte Zeugin. Betrete ich einen Raum auf einer Party, ist es, als würden die Details bei meinem Unterbewusstsein Schlange stehen – Geräusche, Gerüche, Gegenstände, Menschen, Gefühle, Schwingungen – in Sekunden erfasst und abgespeichert.
Filme, in denen Kindern oder Tieren etwas angetan wird, kann ich ausdrücklich nicht gucken, meine Fantasie steigt dann Hand in Hand mit meinen Gefühlen in so eine Untiefe hinab, dass es mich mitunter körperlich schmerzt.
„Mimose“, „Drama-Queen“, „Sensibelchen“ – wurden Sie seit Ihrer Kindheit auch häufig so genannt? Wenn dem so sein sollte – und wenn dazu Ihr innerer Kritiker Ihnen ein ähnliches Trainingsprogramm wie oben aufgezählt immer wieder eintrichtert – dann könnte es Ihnen helfen, sich mit dem Thema Hochsensibilität zu beschäftigen.
Hochsensibilität kommt nicht immer im gleichen Erscheinungsbild
In vielen Fachbüchern werden Sie sich vielleicht auf den Seiten 5 bis 10 exakt wiederfinden – und auf Seite 20 plötzlich nicht mehr – das liegt daran, dass die Erscheinungsformen der Hochsensibilität sehr unterschiedlich sein können. Auch sprechen einige Autoren von einer besonderen Begabung und tendieren dazu, Hochsensible als die besseren Menschen darzustellen – das möchte ich ausdrücklich nicht.
Erklären kann ich mir diese Tendenz der Autoren so, dass Hochsensible sich häufig- eher umgekehrt – sehr in Frage stellen, mit sich hadern und sich mit ihrer Empfindsamkeit immer schon verkehrt gefühlt haben – sodass jedem Hochsensiblen so eine positiv hervorstechende Positionierung gut tut. Ich möchte mich auf die Aufklärung beschränken, denn in meinen Augen ist die bereits sehr hilfreich. Endlich einen Begriff und eine Erklärung für das zu erhalten, was ich an mir wahrnehme und Wege und Tipps, wie ich meine Hochsensibilität für mich positiv leben und nutzen kann.
Wie ich das in meiner Praxis in Therapie- und Coachingsitzungen vereinbaren kann? Ich würde sogar sagen, es ist eine unterstützende Eigenschaft für diesen Beruf. Ich leide nicht mit meinen Klient*innen mit, aber ich nehme viel wahr, ich habe für alle Arten von Gefühlen eine tiefes Verständnis und ich kann mit ihnen umgehen – mit meinen eigenen und mit denen anderer Menschen.
„Wie schaffst Du eine professionelle Distanz?“ Nun, mir gefällt der Begriff Distanz in meinem Beruf nicht. Ich halte es eher mit professioneller Nähe. Da geht sicher jede/r Kolleg*in anders mit um, doch für mich persönlich funktioniert es so am besten – ich kann Räume auf- und wieder zumachen – und natürlich ist es für mich ein Unterschied, ob ich privat mit Emotionen umgehe oder ob eine Klientin vor mir sitzt, die von Ihrer erschütternden Kindheit erzählt.
Von meiner Seite als Therapeutin oder Coach aus bedeutet die professionelle Nähe: „Immer persönlich, nie privat – und durchgehend professionell“. Hochsensibilität steht meiner Professionalität also nicht im Wege, ich empfinde sie als hilfreich.
Hochsensibilität ist eine Veranlagung. Sogar eine, die vererbt sein kann. 15-20 Prozent der Menschen sind hochsensibel – und ein großer Teil weiß es nicht einmal. Falls Sie die Vermutung haben, hochsensibel zu sein, Informieren Sie sich und freunden Sie sich mit Ihrer Empfindsamkeit an, sie kann ein Geschenk sein, wenn Sie achtsam mit sich umgehen und sich zum Beispiel für Ihre Tränen nicht mehr schämen.
Nachfolgend ein paar weitere Informationen zum Thema Hochsensibilität:
Vier Fakten über Hochsensibilität:
- Definition und Verbreitung: Hochsensibilität, auch bekannt als sensorische und emotionale Verarbeitungssensitivität, ist ein Persönlichkeitsmerkmal, das etwa 15-20% der Bevölkerung betrifft und durch eine tiefere und feinere Verarbeitung unter anderem von Sinneseindrücke gekennzeichnet ist.
- Genetische Komponente: Forschungen deuten darauf hin, dass Hochsensibilität teilweise genetisch bedingt ist. Studien zeigen, dass hochsensible Personen aufgrund ihrer genetischen Konstitution stärker auf Umweltreize reagieren.
- Gehirnaktivität: Bildgebende Verfahren wie fMRT-Scans haben gezeigt, dass bei hochsensiblen Personen bestimmte Gehirnregionen, insbesondere jene, die mit Aufmerksamkeit und emotionaler Verarbeitung verbunden sind, stärker aktiviert werden, insbesondere bei der Verarbeitung subtiler Reize.
- Nicht gleichzusetzen mit Introversion: Obwohl viele hochsensible Personen auch introvertiert sind, gibt es auch einen signifikanten Anteil an extrovertierten und ambivertierten Menschen unter ihnen. Hochsensibilität ist also quer durch alle Persönlichkeitstypen zu finden.
Stellen Sie sich vor, Sie spazieren durch einen Wald. Wo andere vielleicht nur das Rauschen der Blätter hören, nehmen Sie jedes Zwitschern, jeden entfernten Klopflaut eines Spechts und das leise Rascheln eines Eichhörnchens im Unterholz wahr. Dieses intensive Erleben der Umwelt ist typisch für hochsensible Menschen. Sie nehmen subtile Nuancen wahr, die anderen entgehen, und verarbeiten Sinneseindrücke tiefer.
Doch Hochsensibilität geht über eine gesteigerte sensorische Wahrnehmung hinaus. Sie betrifft auch das emotionale Erleben. Hochsensible Menschen fühlen intensiver – Freude, Traurigkeit, Empathie, aber auch Überwältigung und Stress. Es ist, als würden sie die Welt nicht nur in HD, sondern in 4K-Auflösung erleben.
In der Kindheit kann Hochsensibilität verschiedene Formen annehmen. Vielleicht erinnern Sie sich, dass Sie als Kind von lauten Geräuschen oder rauen Stoffen besonders irritiert waren. Oder Sie waren das Kind, das die Gefühle anderer intuitiv erfasste und Trost spendete, obwohl niemand ein Wort gesagt hatte. Vielleicht waren Sie auch überwältigt von großen Menschenmengen oder hektischen Umgebungen, suchten nach Ruhe und konnten sich tief in die Welt der Bücher oder kreativen Hobbys vertiefen.
Im Erwachsenenalter zeigt sich Hochsensibilität oft in einer großen Kreativität, einem reichen Innenleben und einem tiefen Bedürfnis nach bedeutungsvollen, authentischen Beziehungen. Hochsensible Menschen sind oft ausgezeichnete Zuhörer, empathische Freunde und kreative Problemlöser. Doch sie stehen auch vor Herausforderungen: Überstimulation, ein Gefühl des Andersseins und die Schwierigkeit, Grenzen zu setzen, sind nur einige davon.
Die Arbeitswelt kann für Hochsensible sowohl eine Bühne als auch ein Schlachtfeld sein. In Berufen, die Empathie, Detailgenauigkeit und kreatives Denken erfordern, können sie brillieren. Gleichzeitig können laute Büroumgebungen, ständige Unterbrechungen und ein hohes Tempo überfordernd wirken.
Das Leben als hochsensibler Mensch ist ein Balanceakt. Es erfordert das Erkennen der eigenen Grenzen und Bedürfnisse sowie das Erlernen von Strategien, um mit der Überstimulation umzugehen. Dazu gehört auch, sich selbst zu akzeptieren und die Hochsensibilität als Teil der eigenen Persönlichkeit zu schätzen. Unter anderem folgende Tipps können Hochsensible unterstützen, ihre Hochsensibilität als Stärke zu begreifen und im Einklang mit ihr ein erfülltes Leben zu führen:
Tipps bei Hochsensibilität
- Selbstakzeptanz fördern: Hochsensible Personen hilft es, zu lernen, ihre Sensibilität als Teil ihrer Persönlichkeit zu akzeptieren und zu schätzen. Dies beinhaltet das Verständnis, dass Hochsensibilität sowohl Herausforderungen als auch Stärken mit sich bringt.
- Grenzen setzen und kommunizieren: Es ist wichtig, persönliche Grenzen zu erkennen und diese auch zu kommunizieren. Gerade Hochsensible sollten sich nicht scheuen, Nein zu sagen oder sich aus überstimulierenden Situationen zurückzuziehen, wenn nötig.
- Zeit für Regeneration einplanen: Hochsensible benötigen oft mehr Ruhe und Erholung als andere. Regelmäßige Pausen, Entspannungsübungen oder ruhige Momente allein können dabei helfen, sich zu regenerieren und Überstimulation zu vermeiden.
- Umwelt bewusst gestalten: Eine ruhige und harmonische Umgebung kann für Hochsensible sehr unterstützend sein. Dies kann bedeuten, laute oder hektische Orte zu meiden, den eigenen Wohnraum bewusst ruhig und angenehm zu gestalten und sich mit Menschen zu umgeben, die Verständnis und Unterstützung bieten.
- Positive Aspekte der Hochsensibilität nutzen: Hochsensible haben oft ein tiefes Empfinden für Kunst, Musik, Natur und zwischenmenschliche Nuancen. Diese Fähigkeiten können kreativ genutzt werden, um das Leben bereichernd und erfüllend zu gestalten.
Abschließend möchte ich noch einmal auf den Aspekt hinweisen, dass es kein „besser“ oder „schlechter“ im Zusammenhang mit dem Thema Hochsensibilität gibt. Es geht um Aufklärung, Erklärung und Verständnis – sowohl für Hochsensible selbst als auch für die Menschen, die mit Hochsensiblen zu tun haben.