;
Psychotherapie, psychologisches Coaching und Beratung

Eine Enttäuschung? Für wen?

Enttäuschung

„Ich habe Angst, andere zu enttäuschen, wenn ich das nicht mache …“ Klientin A. sitzt vor mir, Tränen in den Augen und dunkle Ränder darunter. Müde ist sie, erschöpft, völlig überarbeitet. Seit drei Monaten macht sie Überstunden, der Druck ist enorm, die Kunden ungnädig, auch beim Chef liegen die Nerven seit einigen Wochen blanker als sonst.

Der Alltag meiner Klientin gleicht inzwischen einem durchgetakteten Dauerlauf – um viertel vor Sechs ist morgens Anpfiff, dann geht es von Etappe zu Etappe – Pausen sind nicht drin – in ihrem Kopf spielen die Gedanken Pingpong, sie ist durchgehend angeknipst und fühlt sich immer unter Strom. Bis Mitternacht, dann fällt sie ins Bett – doch die Gedanken kreisen häufig weiter, die Hände wollen nicht zur Ruhe kommen, ihr Organismus hat Schwierigkeiten, runterzufahren.
Wenn in ihrem sorgfältig durchgeplanten Tag mal etwas nicht funktioniert, ist die Frustrationstoleranz schnell ausgereizt: „Gestern ist mir die Brotdose meiner Tochter heruntergefallen … ich weiß, eigentlich keine Drama. Aber ich stand auf einmal in der Küche und habe geheult. Das ist doch nicht normal?“

Das ist vor allem eins nicht: gesund. Denn wenn wir bei Kleinigkeiten unverhältnismäßig die Fassung verlieren, dann ist etwas in uns aus dem Gleichgewicht, in den meisten Fällen sind wir überversorgt mit Reizen, Aufgaben und Druck – und unterversorgt mit Pausen, Zeit für uns und Schlaf.

Wie kommt es zu so einem Zustand?

„Ich schaffe ja irgendwie alles – nachmittags die Große zum Sport fahren, schnell wieder nach Hause, der Kleinen bei den Hausaufgaben helfen, Wäsche reinwerfen, Zettel für die Schule ausfüllen, zwischendurch zwei Emails beantworten, Zahnarzttermin vereinbaren, neue Sportschuhe bestellen, auf dem Weg zum Abholen noch schnell Brot kaufen, Abendessen, Essen für morgen checken, Wäsche in den Trockner und aufhängen, Geld für den Schulausflug rauslegen, wenn die beiden dann im Bett sind – Rechner aufklappen und die zusätzlichen Aufgaben, die an mir hängengeblieben sind, noch erledigen.“
„Zusätzliche Aufgaben?“
„Ja, es ist so viel zu tun, uns fehlen zwei Leute im Team – und ich weiß, ich kann schlecht Nein sagen… aber die Kollegen laden auch echt alles bei mir ab. Die schreiben mir wegen jeder Kleinigkeit E-Mails anstatt selber mal zu recherchieren, mein Chef ruft mich an, obwohl er weiß, dass ich gerade in einem wichtigen Termin bin.“
„Und dann gehen Sie ran?“
„Ja, natürlich. Sonst ist er bestimmt angefasst, wenn ich einfach nicht ans Telefon gehe.“
„Obwohl er weiß, dass Sie diese 30 Minuten ausdrücklich nicht rangehen können?“
„Ja, also er weiß das schon.“
„Meinen Sie, er denkt da in dem Moment dran?“
„Keine Ahnung. Gesagt habe ich es ihm.“

Worum geht es also? Sind die Kollegen übergriffig und bequem? Vielleicht. Ist der Chef gedankenlos und grenzverletzend? Könnte auch sein. Und wenn es so ist? Dann stellt sich folgende Frage: Was mache ich damit? Ein Weg könnte ein klärendes Gespräch sein, in dem ich deutlich offenlege, dass meine Kapazitäten ausgereizt sind und ich keine weiteren Aufgaben übernehmen kann, eher welche abgeben müsste. Könnte klappen. Tut es häufig nicht. Häufig ändert sich nach solchen „Ansagen“ wenig. Also bleibt mir nur eine Möglichkeit: Selbst für die Einhaltung meiner Grenzen zu sorgen. Und nun zu dem Problem, welches Viele haben: Sie laden sich lieber noch mehr Aufgaben auf, legen Nachtschichten ein und arbeiten sich um Nerven und Gesundheit, statt „Nein“ zu sagen, das ist unangenehm.

Wichtig ist in so einem Moment, sich die Frage zu stellen, was wir mit dem „Nein“ verbinden? Häufig stellt sich mit einem „Nein“ ein Gefühl von Versagen ein – etwas nicht zu schaffen, nicht leistungsfähig zu sein, eine Enttäuschung für Kolleg*innen oder Chef zu sein.

Und das dann auszuhalten – jemanden zu enttäuschen.

Und wenn mein Unterbewusstsein dann den vermeintlich leichteren Weg wählt – nämlich einfach die Ärmel hochzukrempeln und noch eine Schippe draufzulegen, dann laufe ich Gefahr, in Arbeit zu ertrinken und in eine Erschöpfung zu rutschen.

Eine gute Selbstfürsorge würde mir etwas anderes raten: „Pass auf Deine Gesundheit auf, ziehe Grenzen, achte auf Dich und Deine Kapazitäten, gehe nicht dauerhaft über Dein Limit und ziehe Deinen Energietank nicht leer.“ Nicht streng mit mir sein, nicht den inneren Antreiber auf mich eindreschen lassen, sondern mich selbst im wohlwollenden Blick haben.

Mich selbst nicht zu enttäuschen, indem ich mich vernachlässige, obwohl ich doch der wichtigste Mensch in meinem Leben bin.
Na? Sind Sie gerade zusammengezuckt?
„Ich bin der wichtigste Mensch in meinem Leben“ – also ehrlich, das sagt doch nur ein Egomane, oder? Nicht, wenn Sie nicht noch den Satz „Und alle anderen sind unwichtig“ dahinter legen.

Erst einmal zu schauen, dass es mir gut geht, dass ich versorgt bin, ist völlig in Ordnung, sogar gesünder, als wenn ich immer erst einmal schaue, dass alle anderen glücklich sind, bevor ich an mich selbst denke. Tun Sie sich lieber den Gefallen und versprechen Sie sich selbst, sich gut um sich zu kümmern und auf Ihre körperliche und mentale Gesundheit zu achten.

Es geht also nicht darum, dass alle anderen sehen müssten, wie überlastet ich bin – und dass die sich darum sorgen sollten, mir nicht zuviel aufzuladen und mir keine Emails zu schreiben oder mich anzurufen. Natürlich wäre es schön, wenn wir uns alle gegenseitig etwas im Blick hätten.

Aber in erster Linie ist es wichtig, selbst die Grenzen zu ziehen – freundlich aber bestimmt zu sagen: „Ich habe diese Woche keine Kapazitäten mehr frei, das noch zu übernehmen“, das Telefon auch mal klingeln zu lassen. Nicht innerhalb von drei Sekunden auf jede Email zu reagieren und sich für alles und jeden zuständig zu fühlen. Und falls mir wirklich enttäuschte Reaktionen entgegenkommen, diese dann auszuhalten und mich selbst nicht zu enttäuschen indem ich selbst meine Grenzen nicht wahre.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert