Trennung? Verlass mich nicht! Oder lieber doch?
„Mein Partner hat eine stressige Phase. Das verstehe ich. Ich versuche wirklich, ihn zu unterstützen, ihm nicht noch mehr Stress zu bereiten. Aber er verhält sich mir gegenüber immer wieder so distanziert – ich habe Angst, ihn zu verlieren. Ich möchte nur keine Trennung.“
Nach einem ersten Gespräch stellt sich oft heraus, dass dieser Zustand nicht brandaktuell ist, sondern sich schon seit einiger Zeit so entwickelt. Er hält sie hin, sie ist nicht erreichbar, er ist gestresst, sie braucht „Zeit für sich“. Wie herum auch immer – irgendetwas stimmt nicht. Weiter nachgefragt kommen häufig noch Respektlosigkeit, Lügen oder Verletzungen, Gereiztheit, Distanz und Rückzug hinzu – immer eingewickelt in das Verständnis-Papier mit Aufdruck „Ich kann gerade nicht anders, es ist eine stressige Phase bei mir“.
Nicht nur, dass sich der, der so behandelt wird, gar nicht fragt, ob eine stressige Phase den anderen wirklich legitimiert, mit ihm so umzugehen – die Frage „Liebt er oder sie mich wirklich?“ wird mit jedem Meter mehr Distanz übermächtig und vernebelt den Blick.
Die Frage „Will der andere mich noch?“ wird so groß und so alles beherrschend, dass eine wichtige Frage sich ganz leise in eine Ecke verzogen hat: Will ICH meinen Partner oder meine Partnerin so, wie er sich benimmt, überhaupt? Möchte ich wirklich mit jemandem zusammen sein, der mich SO behandelt?
Doch häufig ist der Leidtragende bereits so verunsichert, dass er nur noch in der Lage ist zu reagieren, der Partner bestimmt Richtung und Tempo und sogar den Wellengang – und ob eine Trennung zur Debatte steht.
Von einem normalen Umgang ist kaum noch die Rede, doch der oder die Betroffene sucht die Fehler noch immer bei sich: „Ich könnte ja noch mehr Rücksicht auf ihn nehmen“, „Sie hat schon recht, wahrscheinlich braucht sie wirklich nur Zeit.“ Doch oft bleibt es nicht dabei, die Schmerzgrenze wird unbemerkt immer mehr ausgeweitet und das selbstverständliche Bedürfnis, dass man in einer Partnerschaft schwierige Zeiten gemeinsam meistert anstatt den anderen auszuschließen, wird ignoriert oder als „klammernd“ gewertet.
Perspektivwechsel hilft
Oft hilft es in so einem Moment, wenn wir uns aus der Situation herausziehen und mal „von oben“ darauf gucken: Wenn uns eine gute Freundin erzählen würde, wie respektlos ihr Freund mit ihr redet, wenn uns ein guter Freund erzählen würde, dass seine Frau eh schon seit Monaten so einen Stress habe, und er habe ihr wahrscheinlich nicht genügend Freiraum gegeben, aber er wollte doch nur wissen, was los ist. Nun ist sie fremdgegangen, erzählt er unter Tränen, doch „Sie sagt, ich habe sie so eingeengt, dass sie gar keine Wahl hatte“. Was würden wir unseren Freunden dann raten?
Ja, manchmal muss man Durststrecken aushalten, eine Beziehung watet auch mal durch etwas hindurch, manchmal steht es einem bis zum Hals – doch um solche Situationen geht es nicht. Es geht um den Moment, in dem der Respekt sich Stück für Stück verabschiedet. Der Moment, in dem ich mich nicht mehr nur fragen könnte – geht man so mit einem Menschen um, den man liebt – es geht um etwas noch Grundlegenderes: Geht man so mit jemandem um, den man zumindest mag? Oder vor dem man Respekt hat?
Eine Klientin erzählte mir von den Monate voller Streitsituationen, von den Lügen, dem Abstand, dem Hinhalten durch ihren Partner, mit Tränen in den Augen kam als Resümee: „Ich möchte ihn nur nicht verlieren!“ Da kann man schon mal provokativ zurückfragen: „Warum denn nicht?“
„Liebe“ ist oft die Antwort. Nur nicht die Liebe zu sich selbst ist hier gemeint, denn die wird in solchen Beziehungen immer weniger. Was so eine Behandlung mit unserem Selbstbewusstsein macht, geht leider oft Hand in Hand mit dem Gefühl, ohne denjenigen nicht sein zu können, auch wenn er uns nicht gut tut. Je länger dieses Ungleichgewicht in einer Beziehung vorhanden ist, desto mehr leidet unser Selbstwert. Häufig ist genau dort der Schlüssel zu finden, warum es so weit kommen konnte, warum wir es jemandem erlauben, so mit uns umzugehen.
Selbstliebe nach vorn!
Den eigenen Selbstwert wieder zu entdecken, sich selbst als liebenswert zu betrachten, als jemanden, der jeden Respekt und Ehrlichkeit verdient hat, das eigene Wohl an die erste Stelle zu hieven – das hat nichts mit Egoismus zu tun. Die umgekehrte Frage „Würde ich das mit ihm oder ihr auch machen?“ ist oft blitzschnell beantwortet: „Natürlich nicht!“ Der Partner hat diese Klarheit nicht. Das sollte uns zu denken gehen.
Was macht ein gutes Leben für uns aus? Möchte ICH überhaupt mein Leben mit jemandem teilen, der meine Bedürfnisse und meine Gefühle nicht mehr berücksichtigt? Wie sollten Beziehungen denn sein, die ich eingehe, wie möchte ich behandelt werden? Wie möchte ich mich fühlen in einer Partnerschaft?
Betrachten Sie Ihre Partnerschaft von Zeit zu Zeit mal durch diesen Filter – dann steigen die Chancen, dass es für Sie in die richtige Richtung geht – oder Sie rechtzeitig sagen können: „So nicht!“
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