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Psychotherapie, psychologisches Coaching und Beratung

Die Bewertung der anderen

Bewertung

„Wie kann man nur?“, „Wie sieht der denn aus?“ – geben Sie es zu, so oder so ähnlich haben Sie auch schon mal eine Bewertung über jemanden verfasst – über die Entscheidung, die er oder sie gefällt hat, die Klamotten, die jemand anhatte, über das Gesichts-Tattoo vom Nachbarn gegenüber.

Niemand ist wirklich frei von Meinung und Bewertung. „Ja, und weiter?“, fragen Sie sich? Ich möchte heute ein Plädoyer halten – für das BEMÜHEN um ein wertungsfreies Denken. Für das Wollen, das Reflektieren. Denn das haben wir alle in der Hand: Wir können uns ändern, wir können eine andere Perspektive auf das Leben und auf Menschen trainieren. Wie das geht?

Was hat das mit mir zu tun?

Fangen wir ganz am Anfang an.
Sagen wir, Sie begegnen immer mal wieder einer Frau in Ihrem Viertel, die um die 70 ist, feuerrote Haare, gern im Leo-Mini unterwegs, Federboa um den Hals und knallroten Lippenstift. Die laut lacht, Mofa fährt und Cowboyboots trägt. Und die sich offensichtlich ein Ei drauf backt, was andere von ihr halten. Na, was bewegt sich da in Ihnen? Ganz ehrlich? „Wie kann man in dem Alter nur so rumlaufen? / Wie kann man überhaupt so rumlaufen?“ Irgendein Gedanke in der Art?

Falls Sie gerade Ihren eigenen Leo-Mini zurecht ziehen und sagen „Nee, ist doch super“, dann suchen Sie sich ein Gegenbeispiel heraus: Mitte Zwanzig, männlich, immer perfekt frisiert und rasiert, manikürte Nägel, teure Anzüge, Lederschuhe, Aktentasche. Jeden Tag. Immer. Ernster Blick.

Und nun? „Spießer / Stock im Hintern / Schnösel“?

Sollten Sie nicht einen Hauch einer Bewertung im Kopf haben – und Ihrer Überzeugung nach auch nie, nie haben, bei egal wem in welcher Erscheinung, sage ich: Glückwunsch. Sie können jetzt aufhören zu lesen.

Mein Mangel, mein Zuviel

Sollten Sie aber zu den anderen 99,5 Prozent gehören, dann stellen Sie sich doch mal folgende Frage: Was sagt meine Bewertung über mich aus? Warum bewerte ich den Menschen für das, was er darstellt oder tut? Was daran provoziert mich und warum? Was fehlt mir? Was ist zuviel in meinem eigenen Leben? Wonach sehne ich mich, wovon hätte ich gern ein kleines bisschen mehr oder weniger?

Häufig spiegeln unsere Urteile über andere uns, an welchem Punkt wir mit uns selbst nicht ganz im Reinen sind. Ohne dass wir ausgerechnet in die Cowboyboots steigen wollen, könnte es sein, dass wir gern eine kleine Scheibe davon abhätten, mehr darauf zu pfeifen, was andere von uns denken. Dass wir es eigentlich ganz cool fänden, wenn wir uns mal die Zeit nehmen würden, zumindest halb so sehr auf uns zu achten, wie „der Schnösel“.

Diese Herangehensweise hilft übrigens auch, wenn Sie sich häufig Sorgen machen sollten, wie andere etwas gemeint haben könnten, wenn Sie viele Äußerungen und Stimmungen auf sich beziehen und schnell etwas persönlich nehmen.

Selbstzweifel aushebeln

Denn wenn Sie das Ganze mal umdrehen, also wieder die Perspektive ändern – und zum Beispiel gerade der Kollegin oder dem Kollegen von Ihren beruflichen Zukunftsvisionen erzählt haben und als Antwort ein: „Oha, findest Du das nicht etwas hoch gegriffen?“ oder ähnlich konstruktives Feedback erhalten haben – dann lassen Sie diesen Kommentar mal einen Moment so stehen, bevor sie ihn zu sich nehmen. Bevor Sie ihn auf sich beziehen, an sich zweifeln – oder denken, der oder die Kollegin stellt Ihre Fähigkeiten oder Ihr Vorhaben in Frage.

Nehmen Sie die Aussage und fragen Sie sich nicht, ob es wirklich eine Bewertung in Ihre Richtung ist, sondern was dieser Satz mit der Person zu tun hat, die ihn geäußert hat. Was sagt das über Ihr Gegenüber aus?

Möglich wäre: Kollege oder Kollegin

  • beneidet Sie um Ihre Zielstrebigkeit
  • trägt Glaubenssätze mit sich herum wie „Schuster, bleib bei Deinen Leisten“
  • hat Angst, ihre/seine eigene Untätigkeit zu spüren, sollten Sie erfolgreich sein
  • wäre selbst zu ängstlich, um etwas Neues zu wagen

Denn es ist in beide Richtungen immer wieder ungemein erhellend, wenn wir uns bewusst machen: Bewertungen haben IMMER etwas mit dem zu tun, der sie äußert. Mit den eigenen Erfahrungen, Gefühlen, den eigenen Überzeugungen, der eigenen inneren Landkarte.

Wenn es anders wäre, würde es so etwas wie „Objektivität“ geben – und die ist ein Mythos. Nichts ist wirklich objektiv.

 

 

Foto von Stas Knop / Pixels.com

 

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