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Perfektionismus und Glaubenssätze

Perfektionismus Glaubenssätze
Dieser Schneemann ist übrigens das Werk unserer Nachbarskinder. Mit dem bisschen Schnee, was da war, wurde er erbaut – nicht perfekt, aber großartig! Copyright: Julia Schröder-Göritz

Heute war der letzte Anmeldetag für das Gymnasium, auf das unsere Tochter gehen möchte. Einige Schulen haben wir uns angeguckt – es kamen Gymnasien oder Stadtteilschulen in Frage, wir waren auch bei der Waldorfschule eine Ecke weiter, um zu gucken – womit fühlt sie sich wohl, wo könnte der richtige Platz für sie sein? Nach den gängigen „Tagen der offenen Tür“, einem Abwägen zwischen Druck, Freizeit, 12 oder 13 Jahren, stand die Wahl fest – es soll nun die Schule im Stadtteil sein, das Gymnasium um die Ecke. Wie schön, da sich die Lütte freut, wie schön – die Fahrtwege sind überschaubar.

Perfektionismus – für wen genau?

Die Unterstufenkoordinatorin war sehr nett und hieß uns Willkommen, meine Tochter erzählte frei und auch ein bisschen aufgeregt, was sie gern in ihrer Freizeit macht und welche Fächer sie mag. Das Zeugnis wurde überreicht, die Empfehlung der Grundschule – und dann die Frage: „Und wie kommt es, dass Du in Mathe nur eine 3+ hast?“ Fast hätte ich geantwortet „Weil sie zum Glück nicht das Talent ihrer Mutter geerbt hat, sonst würde da eine 4 oder 5 stehen“ – doch ich musste stutzen. „Nur“ eine 3+? Schnell wurde noch ergänzt, dass das ja ein großartiges Zeugnis sei – und ja, bei nur einer 3 fällt die vielleicht besonders auf – doch ich hatte viele Gedanken danach im Kopf.

Natürlich freue auch ich mich über gute Noten, aber meine Tochter ist kein Roboter, sie soll kein Leistungserbringer sein, sie soll sich bitte nicht verrückt machen. Und überhaupt soll sie nicht soviel „sollen“, sie braucht nicht perfekt zu sein – weder für mich – und das wünsche ich ihr am meisten – nicht für sich selbst. Denn Perfektionismus kann krankmachen.

Der hohe Anspruch an sich selbst ist laut einer Studie von britischen Psychologen in den letzten 20 Jahren stark gestiegen. Es wird unterschieden zwischen dem sozial vorgeschriebenen Perfektionismus, der um 33 Prozent gestiegen ist, dem Perfektionismus, der an andere gerichtet ist und mit überhöhten Erwartungen an die Mitmenschen zu tun hat, gestiegen um 16 Prozent – und dem selbstorientierten Perfektionismus, die Erwartungen an sich selbst, der ist um 10 Prozent gestiegen.

In Zeiten von Instagram und Co ist es manchmal schwer, die eigene eigentlich schöne, aber auch unperfekte Welt immer zu lieben, wenn man die Mütter sieht, die lächelnd und mit top gekleidetem Idealgewicht drei bis sechs entzückende Kinder mit frischem Essen versorgen, sich als tapfere „Working Mum“ zeigen (welche Mutter ist das eigentlich nicht? Arbeiten nicht alle Mütter auf ihre Weise?), dabei entspannt wirken und darüber hinaus noch viel Zeit für Instagram haben.
Oder die Männer, die sich als Superdaddys inszenieren, es nebenbei bedauern, dass sie nur 25 Kilometer in dieser Woche gejoggt sind, aber der neue anspruchsvolle Job natürlich auch seine Zeit fordert. Puh, alle so perfekt hier. Die Messlatte liegt manchmal wirklich unerträglich hoch – und nicht immer schafft es jeder, nicht nach rechts und links zu schauen, sich nicht zu vergleichen.
Gegen diese großartigen Eltern dürfen die Kinder natürlich nicht abfallen, der Glanz sollte aufrecht erhalten bleiben – und eine Fünf im Zeugnis, ein Tritt vors Schienbein des Klassenkameraden oder Ketchup auf jedem Essen – das macht sich nicht gut in unserer Welt der Optimierer. Denn wenn die Eltern so perfekt sind – wieviele Fehler dürfen sich die Kinder dann noch erlauben? Doch Fehler gehören zu einer gesunden Entwicklung im Leben dazu.

Unsere Glaubenssätze prägen uns

Perfektionismus hat viel mit unseren Glaubenssätzen zu tun – Sätze aus unseren frühesten sozialen Beziehungen, die unser Denken, Handeln und Fühlen über viele Jahre geprägt haben. Sätze wie „Wenn ich nicht erfolgreich bin, werde ich weniger geliebt“ oder „Du musst Dich mehr anstrengen, dann bist Du etwas wert“. Als Erwachsener gilt es, diese Sätze umzuschreiben und sich klar zu machen, dass man so viel besser ist, als man selber denkt – und nicht für Leistung geliebt wird sondern für unsere Eigenschaften, unser Wesen, dafür, dass wir sind wie wir sind, ganz ohne vorzeigbare Ergebnisse.
Und es geht darum, dass wir bereit sind, anzuerkennen, dass wir nicht über alles die Kontrolle haben können – das Leben hält Überraschungen für uns parat, mal gute und mal schlechte. Und wir machen Fehler! Ja, wir werden Dinge falsch machen, wir werden Kritik dafür ernten, vielleicht werden wir auch mal mit Schwung scheitern – und dann werden wir wieder aufstehen, uns schütteln und das Leben neu anpacken. Aber vor allem: Wir werden das natürlich nicht mit perfekten 100 Prozent Einsatz tun – denn ständig volle Leistung zu erbringen, das laugt aus. Ein entspanntes „80 Prozent reichen“ erleichtert das Leben sehr und bringt auf Dauer auch die besseren Ergebnisse.

Unserer Tochter habe ich gesagt, dass sie sich erst einmal nur auf die Schule freuen darf. Und alles andere bekommt sie schon hin.
Es muss ja nicht perfekt sein.

 

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